Aus der EINSVIER: Sommerglück im Plattenbau

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Ein Mann mit Bart steht vor einem Hochhaus.

Sommerglück im Plattenbau

André Kubiczek hat den Stern in seinen Büchern verewigt. EINSVIER kehrt mit dem Autor an die Schauplätze seiner Jugend zurück.

Fast ein bisschen hübsch findet es René in seinem Viertel, als der Leser ihm erstmals begegnet. Am Johannes-Kepler-Platz mit der kleinen Fußgängerzone, dem „Zentrum unseres Neubaugebiets“, gibt es 1985 eine Kaufhalle, „eine Buchhandlung, eine Apotheke, eine chemische Reinigung, eine Mehrzweckgaststätte, eine Drogerie, einen Springbrunnen“. Fürs Auge wurden ein paar Blumenrabatte gepflanzt, „dürre Bäume“ recken „ihre dürren Äste in den Himmel“. Nur wenn man woanders arbeiten, ins Kino gehen oder sich begraben lassen will, müsste man den Stern verlassen.

Glück im Unglück

In der federleicht geschriebenen „Skizze eines Sommers“ lässt André Kubiczek seine 16-jährige Hauptfigur flirrende Ferien erleben. Der verwitwete Vater ist für viele Wochen auf einem Kongress und hat seinem Sohn eine Stange Geld dagelassen. Reich ausgestattet durchstreift René den Stern und die große Stadt, trifft Freunde und die erste Liebe aus dem Nachbarhochhaus. Immer an seiner Seite sind die Literatur und die Indie-Hits aus dem Westradio.

In den drei René-Romanen hat der Autor aus vielen Details und Erlebnissen seiner eigenen Biografie geschöpft. Sein Protagonist kam wie Kubiczek 1969 in Potsdam auf die Welt, verlor seine Mutter früh und machte später in Halle (Saale) im Internat der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät seinen Schulabschluss. „Ich habe aber selbst nie am Stern, sondern in Waldstadt gewohnt“, sagt Kubiczek.

Ein Mann mit Bart steht auf einem kleinen asphaltierten Weg mit Bäumen an den Seiten.
André Kubiczek erinnert sich an Spaziergänge mit einer Disko-Bekanntschaft auf dem kleinen Boulevard.

Mit seinen Eltern zog er 1973 nach Jahren zur Untermiete im zugigen Altbau mit Ofenheizung und Außentoilette in den Neubau und genoss den Komfort mit Bad und Fernwärme. „Es gab nur wenige Wohnungen, aber die Regierung hat sich bemüht, dieses Problem mit ihrem Bauprogramm anzugehen. Wenn es den Stern oder Marzahn und Hellersdorf in Berlin heute nicht gäbe, wie würde dann die Wohnsituation aussehen, bei all den Leuten, die zuziehen?“

Blick auf eine Hausfassade mit Schriftzug Orion
Die Mehrzweckgaststätte Orion im September 1995

Treff- und Sehnsuchtsort

Auf seinem Schulweg konnte er den Stern wachsen sehen. „Die große Kaufhalle am Johannes-Kepler-Platz war berühmt für ihre angeschlossene Bäckerei mit frischen Brötchen.“

All seine Freunde wohnten am Stern. „Gemeinsam gingen wir ab 1983 in die Disko.“ An jedem Mittwoch- und Sonntagabend wurde die Mehrzweckgaststätte Orion zum Treffpunkt und Sehnsuchtsort der Jugendlichen. Die DJs spielten mangels Westplatten die Hits von zwei Kassettendecks und löteten sich ihre Lichtanlagen selbst zusammen.

Ob Kubiczek wie seine Hauptfigur dort „das schönste Mädchen von allen“ gefunden hat, erfahre ich nicht. Doch erzählt er beim Fotorundgang, dass er einst mit einer Disko-Bekanntschaft auf der im Buch beschriebenen „Schmalspurpromenade“ flanierte. Die Gaststätte gibt es längst nicht mehr, der Name lebt in einer Apotheke weiter.

Die Zeit nicht vergessen

Vor fast 32 Jahren zog es André Kubiczek fort. Heute lebt er in Berlin. Beim Fotorundgang staunt er, wie groß die einst „dürren Bäume“ im Laufe der Jahre geworden sind. Zu einigen der Diskofreunde von damals hat er noch Kontakt.

Die DDR der 1980er-Jahre und die Wendezeit danach sind in seinem Werk, erschienen im Rowohlt-Verlag, stets präsent geblieben. „Der Plattenbau war unser natürlicher Lebensraum. In den Büchern ist er eine Kulisse, so wie die ganze Republik. Es geht mir um die Geschichten der Leute – und die spielen in der DDR.“

Vor allem aber will er die Zeit nicht vergessen. „Zuallererst mache ich das für mich, bei ‚Skizzen eines Sommers‘ auch für die Freunde von damals. Wenn es Leser findet, dann freut es mich.“ Der Schriftsteller trifft einen Nerv, das hat er selbst im November 2024 bei einer Lesung in der Zweigbibliothek Am Stern erlebt. „Manche Leute sind richtig gerührt, weil da jemand ihre schöne Zeit aufgeschrieben hat. So etwas zu hören, freut mich natürlich auch.“

TEXT TORSTEN BLESS