Aus der EINSVIER: Die Sterne im Himmel und auf der Erde

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Ein altes Foto mit Blick auf eine Baustelle mit Hochhäusern

Schwerpunkt: Leben am Stern

Der Plan für den Stern war schon 1969 gezeichnet worden. Rückschauend darf man staunen, denn die richtig großen Beschlüsse, die so etwas brauchte, die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ und das „Wohnungsbauprogramm“, kamen erst Jahre später. Aber irgendein Dokument muss es gegeben haben, ohne Beschluss ging damals gar nichts. Man konnte nicht einfach so eine Siedlung für 20.000 Menschen planen. In einer amtsinternen Notiz ist die Rede von einer „Politbürovorlage“, die die „Grundidee der Verbindung der Stadt Potsdam mit den Industriegebieten von Teltow in Form einer Bandstadt“ bestätigt hätte. Das muss es wohl gewesen sein, eine Vorlage bei den Allerhöchsten. Fortan war zwischen Bahndamm und Autobahn alles möglich. Der Name des Vorhabens kam indes nicht von oben. Den verdankte man dem Volksmund, der seit mehr als 100 Jahren die Gegend „Am Stern“ nannte.

Im Frühjahr 1970 ging es los. 120 Hektar Baustelle und 6.500 Wohnungen auf dem Plan. Die alten Gärten und Siedlungsfragmente im Gebiet durften bestehen bleiben. Allerdings sollte das neue Zentrum, „der zentrale Festplatz“, so angelegt werden, dass die älteren Besiedlungen jederzeit überbaut und angeschlossen werden konnten. Mit den Wohnungen entstanden Schulen, Kaufhallen, Sportplätze, Kindergärten und ein Polizeirevier. Alles war neu: in dieser Dimension zu bauen, in diesem Tempo, in dieser komplexen Organisation. Bislang dümpelte der Wohnungsbau in Potsdam so vor sich hin. Und nun das! Im Herbst 2021 resümierte ein Lokalreporter unter Berufung auf Zeitzeugen: „Der Stern war das erste und das einzige von insgesamt zehn DDR-Neubauvierteln in der Stadt, in denen fast alle wesentlichen Angebote einer mittleren Kleinstadt bedacht wurden – bis hin zur Schwimmhalle, zur Zweigbibliothek und zur Wohngebietsgaststätte.“

Ein Luftbild von oben auf einen sternförmigen Weg und Bäume
Jagdsterne gelten als die Fortschreibung barocker Gartenkunst in die Landschaft.

Weltall, Erde, Mensch

Aus heutiger Sicht überrascht es, dass sich das Großprojekt wirklich auf den Jagdstern bezieht. Fluchten, Sichtbeziehungen, Achsen orientieren sich an denen des barocken Schießstandes. Den Planenden war klar, so weiß man es aus amtlichen Protokollen, dass es solcherart Jagdsterne nicht viele gab, noch weniger waren erhalten geblieben. Und der hiesige war der Einzige auf dem Territorium der DDR. Auch die „Bildkünstlerische Konzeption“ des Wohngebietes ließ dem feudalen Landschaftsstern seinen Frieden. Um Straßen, Kitas, Schulen und Plätze benennen zu können, wählte man das Leitbild „Erde-Mensch-Kosmos“. Da kamen natürlich Juri Gagarin vor, 1961 der erste Mensch im All, Kommunist zumal, aber auch Kepler und Leibniz, Bohr und Galilei. Die Sterne und der Kosmos waren noch nicht Bruderoder Feindesland und so gab es Platz für bürgerliche Forschende und Himmelsstürmende. Bis 1979 war der Plan umgesetzt, sogar übererfüllt, 7.400 Wohnungen gebaut. Aber ab Mitte der 1980er-Jahre wurden im Stern erneut Bauplätze gesucht. 500 weitere Wohnungen wünschte sich die Bezirksparteileitung. 

Die vorhandene Infrastruktur sollte maximal ausgenutzt werden, ohne sie zu überdehnen. In der Grotrian-, der Bahnhofs- und der Gaußstraße wurden neue Wohnungen gebaut. Auch wenn es nur 397 wurden, überreizten sie alle sozialen Vorgaben. Für die Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner gab es zu wenig Plätze in Gaststätten, Kindergärten und Jugendklubs. Lediglich in den Schulen war noch ausreichend Platz. Zwischen den Häusern blieb der Stern jedoch entspannt. Angesichts von Hitzestress und Klimaspitzen urteilt heute einer der damals zuständigen Stadtentwickler im Rathaus: „Das ist sehr luftig, sehr locker gebaut, mit sehr vielen Grünflächen, gerade auch in den Innenhöfen.“ 

Der Wandel nach der Wende

Mit den 1990er-Jahren wurde alles ganz anders. Wozu nach den Sternen greifen, wenn man durch die Welt fahren kann? Die Tore waren geöffnet und im Westen gab es gute Arbeit für besseres Geld. Die Sternbevölkerung schmolz zwischen 1991 und 2000 um ein Fünftel. 

Vor allem die Jungen zwischen 25 und 40 Jahren gingen fort. Das veränderte die Nachbarschaften: 1990 waren fast 20 Prozent der Sternbewohner Akademiker, schon 2000 waren es nur noch 7 Prozent. Gleichzeitig verdoppelte sich der Anteil der erwachsenen Bewohner ohne Berufsabschluss. Auch die Arbeit wurde knapp: Im Dezember 1997 erreichte die Arbeitslosenquote in Potsdam mit 11,5 Prozent einen Höchstwert. Der damalige Chef des Arbeitsamtes, Jörg Michel, kommentierte laut Berliner Morgenpost: „Die Quote hat eine Größenordnung erreicht, bei der man früher in den alten Bundesländern die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hätte.“ Die Nutzung des Stadtteils wandelte sich. Öffentliche Plätze wurden zu Wohnzimmern von Arbeitslosen und Frühberenteten, manchmal auch zu Trinkstuben. Neben den Kaufhallen gab es geschmuggelte Zigaretten. Unklar blieb lange Zeit, welche Flächen im Stadtteil wem gehören. Treuhänderisch lag jeder Quadratmeter bei der Stadt, die der Vermüllung und dem wilden Parken nicht beikam.

Kreuzung Neuendorfer Straße, Galileistraße
Blick auf einen See umrahmt von Bäumen
Am westlichen Rand findet sich der „Schäfersee“, auch „Baggersee am Stern“ genannt.

Aufstieg im Potsdamer Trend

Nur schleppend ging die Übertragung der Flächen an die Wohnungsunternehmen voran. Trotzdem wurde es langsam sauberer und sicherer. Die GEWOBA, die Vorläuferin der ProPotsdam, legte 1995 einen ersten Wohnhof an. Unter Protest der Nachbarinnen und Nachbarn entstand im Nils-Bohr-Ring ein Ballsportplatz. Erste Sanierungen von Gebäuden folgten. Endlich wurde wieder gebaut, zuerst in den frühen Siedlungsteilen, wo zwischen alten Eigenheimen neue entstanden. Dann auch größere Projekte, 1997 die Siedlung Sterntaler. Seniorengerechtes Wohnen und der Glaube, dass der Stern Zukunft hat. Die GEWOBA baute 2001 eine verfallende Kita in ein Begegnungshaus um. Das fand landesweit Interesse, sogar der Ministerpräsident kam gucken: Überall im Osten standen baugleiche Kitas leer und keiner wusste, was daraus werden soll. Fünf Jahre später wurde der Johannes-Kepler-Platz mit Fördermitteln neu erfunden, ein Supermarkt und Geschäfte entstanden, die Bibliothek ertrotzte sich ihr Bleiberecht.

Der Stadtteil stieg nicht ab. Er schlingerte, aber anders etwa als der Schlaatz oder Drewitz nur für einen Moment. Über lange Zeit zog der Stern ruhig seine Bahnen. Die Mischung der Bevölkerung blieb stabil und ziemlich exakt im Durchschnitt der Gesamtstadt. Das Gerede von der armen Platte erwies sich auch im Stern als Geschwätz. Der Anteil der Arbeitslosen, der Hilfeempfangenden und selbst das Durchschnittsalter entsprach über anderthalb Jahrzehnte dem stadtweiten Durchschnitt.

Es gab ein paar Kinder weniger als im gesamtstädtischen Trend, dafür aber mehr Erwerbstätige. Erst nach 2016 waren Veränderungen zu beobachten, so wuchs der Anteil älterer Menschen. Aber ein Problemgebiet? Nix da, war der Stern nie gewesen! Und der Stadtteil füllte sich wieder.
Nach dem Tiefpunkt im Jahre 2009 ging es kontinuierlich bergauf: 17.800 Meschen leben heute hier, das sind 9,6 Prozent der Potsdamerinnen und Potsdamer. In keinem Stadtteil wohnen mehr.

Gute Aussichten

2019 begannen die Wohnungsunternehmen, sich den Stern genauer anzuschauen: Könnte man hier oder da aufstocken, ergänzen oder anbauen? Die Stadtverwaltung gab einen Rahmenplan in Auftrag: Klimawandel, Mobilitäts- und Energiewende, demografischer Wandel – wie und wo wird das den Stadtteil verändern? In drei Beteiligungsrunden konnte die Bewohnerschaft Wünsche äußern und die Vorschläge der Planenden diskutieren. Einige der guten Ideen wurden weiterentwickelt, neue geboren, andere passend geredet oder verworfen. Das beschlussfähige Konzept ist drei Zielen verpflichtet: „sichere Wege“, „neue Angebote und bezahlbaren Wohnraum“ sowie „grüne Vielfalt für Menschen, Tiere und das Klima“. Zu den Optionen gehören die Begrünung der Galileistraße, die Umgestaltung des Johannes-Kepler-Platzes, ein Mehr an Grün auf Kosten versiegelter Flächen, die Entwicklung des Areals um den Baggersee und die Umwandlung des Bahnhofsvorplatzes. 

Am 4. April 2025 wurde der Plan von den Potsdamer Stadtverordneten in Kraft gesetzt. 55 Jahre nach dem Beschluss der „Konzeption zur Vorbereitung und Durchführung des Wohnungsbaus in der Stadt Potsdam im Perspektivplanzeitraum 1971 bis 75“. Bedenkt man, was aus dem
älteren Plan geworden ist, dann sollte uns um den neuen nicht bange sein.

TEXT CARSTEN HAGENAU

Menschen auf einem Platz im Sommer bei einem Fest
Einmal im Jahr feiern die Bewohnerinnen und Bewohner das Sternfest auf dem Johannes-Kepler-Platz.