Aus der EINSVIER: Wie Krampnitz wurde, was es sein wird

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grafische Visualisierung, wie das Komplette Areal Krampnitz einmal aussehen soll aus der Vogelperspektive

Wie Krampnitz wurde, was es sein wird

An einem Samstagmorgen im Potsdamer Norden, Tanja lauscht in die Stille ihrer Wohnung. Und plötzlich ist sie ganz wach. Sie haben es wieder geschafft! Hermine und Sebastian sind einfach ohne sie losgezogen. Wieder hat Tanja zu lange geschlafen (es ist einfach so ruhig hier!). Sie haben sich angezogen, Frühstück gegessen, haben ihre Roller geschnappt und sind los in den Park. Der Frühstückstisch ist für Tanja gedeckt, aber ein Guten-Morgen-Kuss wäre schön gewesen.

Dinge hinterfragen, Gewohntes neu denken

Wach geküsst wurde Potsdams neuer Norden in den 2010er Jahren. Inzwischen wird hier gezeigt, wie Stadt funktioniert: Platz für Begegnungen von Menschen, Mobilität zu Fuß und Rad, freie Fahrt für Bus und Bahn, Bewohner aus allen Schichten der Gesellschaft, eine Grundschule mit angeschlossener Kindertagesstätte, CO2-neutrale Energieversorgung, gute Luft und viel Grün.

Visualisierung der geplanten Grundschule, einem roten Backsteinbau, in Krampnitz mit spielenden Kindern zwischen kleinen Wasserfontänen
Visualisierung der neuen Grundschule in Krampnitz mit Kita, Hort und Sporthalle

Bevor es dazu kam, musste Krampnitz aufgeräumt und der Vergangenheit entrissen werden: Etliche ruinöse Schuppen und Panzergaragen, tausende Kilo Munitionsreste mussten beseitigt, Öltanks entsorgt werden – im formalen Deutsch wurde eine „Konversionsfläche“ wieder nutzbar gemacht. Klingt nicht nach Rettung der Erde, war es aber: Ein vor Jahrzehnten geplatzter Tank in der ehemaligen Wäscherei der Kaserne hatte das Grundwasser verseucht. Bis in die Tiefen musste dieses kleine Stück des Planeten gesundet werden, nur einer von vielen Fällen. Von alledem wissen die Bewohner nichts oder nur wenig. Und genau das war die Kunst: Die Tanjas, Sebastians und Hermines, die heute hier leben, nehmen andere Dinge wahr, nicht, dass was mal war, was repariert und was geheilt werden musste.

Dass es so wurde, wie es geworden ist, dafür haben viele Menschen an vielen Stellen Mut bewiesen: bewährte Dinge zu hinterfragen, Gewohntes neu zu denken. Sicherlich nicht überall und nicht immer mit der letzten Kompromisslosigkeit – aber an sehr vielen Stellen viel weiter.

Platz für Bewegungen

In Krampnitz wurden aus Absichtserklärungen neue Realitäten. Hier hat sich die Mobilität wirklich gewendet. In kurzer Distanz gibt es die wirklich wichtigen Dinge des Lebens: Kita und Schule (Hermine!), Supermarkt, Ärztehaus und Café sind bequem zu Fuß, per Roller oder mit dem Rad erreichbar. Wer in die Innenstadt will, der nimmt Tram oder Bus oder nutzt den Radschnellweg, der bis ins Bornstedter Feld führt. Und wenn ein Auto benötigt wird, ob für Wochenendausflug oder Baumarkteinkauf, dann bieten die zentralen Quartiersgaragen einfache Sharing- oder Leihmodelle. Und die Naherholung? Entweder direkt im Wohnumfeld, vor allem im grünen Herz des Stadtteils, dem Zentralpark. Aber auch die geschützte Heidelandschaft direkt im Norden des Quartiers ist barrierefrei erreichbar.

Bei der Entwicklung von Krampnitz haben viele Menschen an vielen Stellen Mut bewiesen: bewährte Dinge zu hinterfragen, Gewohntes neu zu denken.

Portrait Gregor Heilmann im Foyer der ProPotsdam
Gregor Heilmann, Energie, Umwelt, Stadtteilentwicklung

Tanja weiß, dass sie Sebastian und Hermine vor dem Mittagessen nicht zu Gesicht bekommen wird. Sie macht sich keine Sorgen, wenn sie mit ihren Rollern um die Wette jagen. Selbst die vielen Lieferdienste dürfen auf den Fahrradstraßen nicht bis vor die Haustür fahren. In der Regel deponieren sie ihre Pakete an zentralen Plätzen im Quartier oder liefern sie mit dem Lastenrad aus.

Menschen bummeln auf begrüntem Platz vor geplanter Quartiersgarage in Krampnitz, die ebenfalls begrünt und luftig wirkt
Autos müssen draußen bleiben: Diese werden zentral in Quartiersgaragen abgestellt.

Wer zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs ist, erlebt die Welt anders. Die Leute rasen nicht aneinander vorbei, sie begegnen einander. Diese Art der Fortbewegung braucht und erlaubt Platz für Begegnungen – das sieht anders aus als man es von autogerechten Städten des 20. Jahrhunderts kennt. Das war für die Planer zunächst erleichternd, da weniger Platz für die Autostraßen und das Parken vorgesehen werden
musste. Aber der Schein trügt: Auch diese Art der Mobilität braucht viel Raum, sowohl für die Fahrrad- und Fußwege als auch für die einfach zugänglichen Abstellplätze für all die E-Bikes, Lastenräder, Roller, Scooter, Hoverboards... Das klingt nicht nach Herausforderung, aber  nachdem Generationen von Planern unsere Wohnorte autogerecht geplant hatten, wissen die wenigsten, wie es wirklich anders geht.  Hier mussten sie sich etwas trauen.

Krampnitz klimaneutral

Neue Stadtquartiere sind eine riesige Aufgabe – da ist es nicht mit der Auswahl der Farbe für den Gartenzaun oder der Entscheidung zwischen Stadtvilla und Landhausstil getan. Hier wird für Jahrzehnte und Jahrhunderte Landschaft gestaltet. Stadt ist nicht nur Raum und Masse, Stadt ist Lebensort, Heimat und Grund, in dem Gesellschaft wurzelt. Jene, die in den 2010er Jahren versuchten, die Entwicklung in Krampnitz anzuschieben, wussten: Die Rezepturen, nach denen Städte im 20. Jahrhundert geplant und entwickelt wurden, taugen kaum für die Zukunft. Denn sie liefern keine Antworten auf die existenzbedrohenden Fragen, wie Klimawandel und Artensterben. Sie wurden vor langer Zeit zusammengestellt, lange vor den Veränderungen der Arbeitswelt, der Digitalisierung, der Vervielfachung der Lebensentwürfe und Kulturen. Lange bevor eine Pandemie schmerzhaft klar machte, dass das Wohnumfeld der erweiterte und gemeinschaftliche Wohnraum der Bewohner dicht besiedelter Orte ist. Die Projektentwickler und Architekten hatten keine bewährten Checklisten, mit denen man den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts begegnen konnte. Deshalb war ihnen klar: Wenn es was werden soll, müssen wir uns in Krampnitz etwas trauen. Für Hermine, Sebastian und Tanja muss es einfach passen.

Tanja holt den Kuchen aus dem Ofen. Eine Überraschung für Sebastian und Hermine. Weil sie keine Hefe im Hause hatte, war sie vorhin noch einmal schnell im Laden um die Ecke. Fast hätte sie sich am Blech verbrannt. Sie wundert sich immer wieder, wie viel Energie Sonne und Erde abzugeben haben.

In Krampnitz sieht man, was aus zig Regalmetern Konzepten entstehenkann: tausende Quadratmeter Photovoltaikflächen oder abertausende Kubikmeter durch Erdwärme erwärmtes Wasser für Heizung und Trinken. Im Sommer 2015 hatte die Potsdamer Stadtverordnetenversammlung beschlossen, dass Krampnitz klimaneutral und unter Einsatz erneuerbarer Energien versorgt werden soll. Die Stadtwerke hatten daraufhin einen Plan für die Energieversorgung des Quartiers entwickelt, der mittelfristig den Verzicht auf fossile Energieträger wie Gas vorsieht. Das ehemalige Heizhaus im Norden spielt dabei eine tragende Rolle als Energiezentrale. Bei der Versorgung wird unter anderem auf Sonnenenergie gesetzt, die auf Dachflächen der Neubauten und Quartiersgaragen gewonnen wird. Wie auch die Erdwärme als aussichtsreiche Energiequelle erschlossen werden kann, war aufgrund der Grundwasserbelastung eine spezielle Herausforderung.

Visualisierung: Drachensteigen, Spaziergängerin mit Hund und Jogger im geplanten Zentralpark in Krampnitz
Der geplante Stadtpark bietet den Krampnitzern viel Platz für Sport, Freizeit und Erholung.

Tanja, Hermine und Sebastian haben hier nicht nur ihre neue Wohnung gefunden. Sie sind auch Mitglied der Krampnitzer  Energiegenossenschaft und haben etwas von der Stromproduktion auf den Dächern. Sie sind Teil der Quartiersinitiative und mit jedem Kaffeegrund, den sie beisteuern, wird der Humus im Gemeinschaftsgarten besser. Sie verstehen sich gut mit den Nachbarn. Die meisten wohnen bei der kommunalen Gesellschaft zur Miete oder sind Mitglieder von Wohnungsgenossenschaften.

Tanja winkt von der Terrasse ihrer Nachbarin zu. Sie wechseln ein paar Worte. Ob sie gesehen hat, dass die Krampnitz-App für heute Abend einen Film im Kasino ankündigt? Ob sie weiß, warum der Vertretungsplan der Grundschule noch immer nicht in der App zu sehen ist? Ehe Tanja antworten kann, stürmen Hermine und Sebastian rein. Den Kuchen, dessen Geruch durch die ganze Wohnung zieht, begrüßen sie mit lautstarker Ausgelassenheit. Die Guten-Morgen-Küsse werden nachgeholt, Hermine hat einen Strauß Butterblumen gepflückt.

Visualisierung: Flanierende Menschen im bestuhlten, lichtdurchfluteten Begegnungsraum
Diese ehemalige Wagenhalle wird künftig neben einer Kita auch einen öffentlichen Begegnungsraum beherbergen.

Ein ausgezeichnetes Quartier

Große Freude gab es im Jahr 2020 auch dank der Gutachter der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen. Sie hatten die Aufgabe, die Planungen für das neue Quartier aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu bewerten: die ökologische, ökonomische, soziokulturelle und funktionale Qualität, ebenso die technische sowie die Prozessqualität. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass viele Bausteine richtig bearbeitet und zusammengesetzt wurden und stellten ein Vorzertifikat in Platin aus. Keines der bisher zertifizierten Stadtquartiere war so groß wie
Krampnitz.

Hermine, Sebastian und Tanja waren im Frühjahr 2021 nicht bei der Überreichung des Vorzertifikates dabei. Wahrscheinlich haben sie damals nicht einmal davon gehört. Sie können aber die Früchte der Planungen tagtäglich genießen. Beim ruhigen Schlafen, bei der Rollerfahrt im Park oder bei einer Tasse Kaffee zum selbstgebackenen Kuchen. Wann immer sie wollen.

TEXT GREGOR HEILMANN